Renate Sachse erlebte 1945 den «Tag der Befreiung»

  07.05.2025

In diesen Tagen gedenkt die Welt des Endes des zweiten Weltkrieges. Für Renate Sachse aus Baar ist diese Zeit vor 80 Jahren, damals in Greifswald an der Ostsee, mit besonderen Erinnerungen verbunden.

FRANZ LUSTENBERGER

Die rüstige Seniorin erzählt über die entscheidenden Tage vor 80 Jahren in ihrer pommerschen Heimat: «Wir hatten eine schöne Kindheit, vom Krieg hatten wir wenig mitbekommen.» Ihre Heimatstadt Greifswald, eine alte Universitäts- und Hansestadt, wurde – im Gegensatz zu anderen Hafenstädten wie Kiel, Lübeck oder Rostock – nicht gezielt bombardiert und weitgehend zerstört. Sachse erinnert sich an die alliierten Geschwader, welche über die Stadt hinweg in Richtung der nahen Grossstadt Stettin oder des Raketenzentrums der Nazi bei Peenemünde flogen, um dort ihre tödlichen Bomben abzuwerfen. «Wir hörten in unseren Kellern den Lärm der Flugzeuge, waren aber von direkten Bombardierungen verschont geblieben.»

Kampflose Übergabe der Stadt
Verschont wurde Greifswald aber nicht nur von den Bombern der britischen Royal Air Force, verschont wurde die Stadt auch von der vorrückenden Roten Armee der Sowjetunion. Es ist eine besondere Geschichte aus den letzten Wochen des Krieges. Adolf Hitler hatte im Frühjahr den Befehl an die Kampfkommandanten der Städte erteilt, bis zum letzten Mann und mit der letzten Patrone zu kämpfen. Eine Gruppe mutiger Greifswalder Männer widersetzte sich dem strikten Verteidigungsbefehl. Brigitte Remertz-Stumpff, die Tochter eines Mannes aus der konspirativen Gruppe, erinnerte sich in einer Dokumentation des NDR (Norddeutscher Rundfunk): «In Greifswald fiel kein einziger Schuss.» Dies gelang, weil es dieser konspirativen Gruppe aus Verwaltung, Universität und Widerstandszirkeln gelang, den lokalen militärischen Oberbefehlshaber, Oberst Rudolf Petershagen, davon zu überzeugen, mit der herannahenden Roten Armee die kampflose Übergabe der Stadt auszuhandeln.

Auch Sachse erzählt heute von diesem Tag, emotional berührend: «Meine Mutter hatte mir aus dem Stoff einer Nazifahne einen Faltenjupe genäht, den ich am Tag der Übergabe am 30. April getragen habe.» Überall in der Stadt hingen weisse Fahnen. Die Waffen wurden abgegeben, die Minen entfernt. Auf der anderen Seite wurde jegliches Plündern untersagt, die Läden blieben geöffnet: «Das geordnete Leben geht weiter wie bisher unter deutscher Verwaltung», hiess es in der entsprechenden Bekanntmachung. Für die Baarer Zeitzeugin war dies wirklich «der Tag der Befreiung». Die Soldatinnen und Soldaten der Roten Armee seien mit Blumensträussen begrüsst worden. Im Rathaus wurde gemäss der NDR-Dokumentation mit Sekt auf das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Russen und je nach Teilnehmer auf «Genosse oder Herrn Stalin» angestossen.

Die Familie der Zeitzeugin gehörte damals zum bürgerlichen Mittelstand und stand der Naziherrschaft distanziert gegenüber. So habe ihr Vater bei Reden des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels, der nach einer Erkrankung in der Kindheit lebenslang einen verkrüppelten Fuss hatte, jeweils lakonisch gesagt, jetzt komme «Klumpfüsschens Märchenstunde». Der Vater kam unter ungeklärten Umständen kurz nach dem Krieg ums Leben. Die Mutter siedelte mit den Kindern noch vor dem Bau der Mauer nach Westdeutschland über, wo Sachse ihren Mann kennenlernte und mit ihm 1968 in den Kanton Zug zog, zuerst nach Ägeri und seit einigen Jahren in Baar.

An Geschichte und Literatur sehr interessiert
Beim Besuch in der Wohnung an der Zugerstrasse fällt die grosse Bücherwand auf. Mit Werken von Schriftstellern aus Norddeutschland wie Siegfried Lenz oder Günter Grass. Oder mit Werken zur Geschichte des zweiten Weltkrieges, wie diejenigen des Historikers und Journalisten Guido Knopp, der mit seinen Büchern und filmischen Dokumentationen die Geschichte jener Zeit immer wieder in Erinnerung rief. Sachse plädiert für möglichst viel Zeitgeschichte im Unterricht; sie ist aufgrund ihrer Lebenserfahrungen auch sehr am politischen Geschehen interessiert. Eine friedliche Welt ist ihre grösste Hoffnung, welche die Menschen gestalten können. Stefan Fassbinder (Bündnis 90/Die Grünen), damals und heute Oberbürgermeister von Greifswald, erinnerte 2021 bei einer Feier zur Erinnerung an die Übergabe der Stadt an das Geschehen am Ende des Krieges: «Die Ereignisse im April 1945 zeigen: man ist dem Schicksal nicht ausgeliefert. Das Leben gebietet uns zu handeln – zum Schutz der Mitmenschen.» Ein Gedanke, dem Sachse aufgrund ihrer persönlichen Erfahrung zustimmt.


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