Wie aus der Zeit gefallen: seltsamer Vogel in Baar
29.01.2025 Natur/UmweltNatur Seit September kann man in der Region Baar/Zug hin und wieder einen seltsamen Vogel beobachten: Futter suchend stolziert er zwischen den Krähen über die Wiesen, schwarz wie diese, aber etwas grösser.
ANNETTE KNÜSEL
Sein kahler Kopf mit den auffällig langen Nackenfedern, der metallische Glanz seines Gefieders und seine lebhaften Kopfbewegungen lassen auch bei flüchtiger Beobachtung keine Verwechslung mit den Krähen zu. Der Vogel ist ein Waldrapp. Er trägt den Namen «Knuckle» und die Ringnummer 691. Waldrappe gehören zur Gattung der Ibisse und waren bis vor etwa 400 Jahren in Europa weit verbreitet. Seit 2014 läuft ein EU-Projekt, um sie wieder anzusiedeln.
Bei einem Vortrag konnte man sich vergangene Woche über den Waldrapp und das Wiederansiedlungsprojekt «Reason for Hope» informieren. Organisiert wurde der Anlass von Zuger Vogelschutz / Birdlife Zug. Referent Arnold Huber aus Oberglatt gilt als erfahrener Experte, ist er doch seit vielen Jahren an dem Projekt beteiligt. Anschaulich und unterhaltsam stellte er den Vogel und die Bemühungen um seinen Bestand vor.
Ein Zugvogel mit langer Geschichte in Europa
Der Waldrapp ist ein Zugvogel, der an Klippen und Steinhängen brütet und sich von Insekten, Würmern, Reptilien, Amphibien und kleinen Fischen ernährt. Er lebt in grossen Gruppen, vorzugsweise in Kulturland und in Feuchtgebieten. Mit etwa sechs Wochen sind die Jungen flügge, mit drei Jahren geschlechtsreif. Die Vögel können 20 bis 30 Jahre alt werden. Sie gelten als sehr sozial. Zum Beispiel führen sie aufwändige Begrüssungszeremonien durch.
Bis ins 17. Jahrhundert hat der europäische Adel die wilden Bestände sogfältig gehütet. Denn das Fleisch des Vogels galt als Delikatesse. So wurde darauf geachtet, dass bei der Jagd immer genug Vögel am Leben blieben, um den Nachschub zu sichern. Doch während des 30-jährigen Kriegs war der Hunger in der Bevölkerung einfach zu gross. Der Waldrapp wurde unkontrolliert gejagt und starb aus. Heute leben etwa 450 Tiere in Marokko, einzelne in Syrien und Ägypten. In Algerien, Tunesien, der Türkei und Europa gibt es den Waldrapp nicht mehr in freier Wildbahn. Nur etwa 2’000 Tiere leben in Zoos oder Zuchtstationen (in Europa). Der Zoo Zürich zum Beispiel hat seit 1971 mehr als 220 Jungtiere grossgezogen.
Seit Jahrzehnten heimisch am Landsgemeindeplatz Zug
Auch in der Voliere am Zuger Landsgemeindeplatz leben Waldrappe, schon seit vielen Jahrzehnten. «Sie sind sehr intelligent», sagt Benedikt Steinle, Vizepräsident des Ornithologischen Vereins der Stadt Zug, «und dem Menschen gegenüber leider auch ziemlich zutraulich». Das aufwändige Begrüssungsritual haben sie sich erhalten, mit etwas Glück kann man es in Zug beobachten. Aber ihr Drang, im Herbst wegzuziehen, ist vollständig verloren gegangen. Nicht die Instinkte weisen den Weg in den Süden – die Eltern müssen ihren Jungen die Flugroute zeigen!
Immer wieder gibt die Zuger Voliere junge Vögel an Auswilderungsprojekte ab. Dort müssen die Tiere vor allem zwei Dinge wieder lernen, damit sie in der Freiheit überleben können: eine gesunde Scheu vor dem Menschen und den Flug in den Süden.
Werden die Bemühungen erfolgreich sein?
In dem grossen, europäischen Wiederansiedlungsprojekt «Reason for Hope» setzt man auf die so genannte «menschgeführte Migration». Das bedeutet: Die Vögel werden mit der Hand aufgezogen und dabei auf zwei Menschen geprägt. Nur auf zwei. Diese beiden betrachten die Jungvögel fortan als ihre Eltern.
Sobald sie flügge sind, werden sie ausserdem an ein motorbetriebenes Ultraleicht-Fluggerät mit Paraschirm gewöhnt: an die Maschine, die Motorgeräusche und den grossen Schirm.
Und dann steigen ihre «Eltern» als Co-Piloten ein, fliegen los – und die Jungvögel folgen. Zuerst nur in der Nähe ihres Nests, ab Mitte August aber in 180-km-Tagesetappen rund 1’000 Kilometer Richtung Süden. An ihrem Überwinterungsgebiet, zuerst in Italien, seit zwei Jahren in Spanien, leben die Jungvögel zunächst in Volieren. Dort werden sie von ihren Zieheltern entwöhnt. Nach einigen Wochen folgt die Auswilderung. Die Erwartung ist, dass sie die einmal geflogene Strecke selbständig zurückfliegen werden und so als Zugvögel langfristig in Europa überleben können.
Es ist ein aufwändiges und teures Verfahren. Zwischen 2014 und 2019 wurden 4,4 Millionen Euro eingesetzt, von 2022 bis 2028 stehen weitere 6,5 Millionen Euro zur Verfügung. Ob damit das Ziel erreicht werden kann, eine selbsterhaltende Population aufzubauen, ist angesichts der hohen Sterblichkeit der Tiere unsicher. Allein im Jahr 2023 wurde der Jahresanfangsbestand um 40 Prozent minimiert: durch Verletzungen, Stromschlag, Jagd und natürliche Feinde. Es gibt deshalb auch unter Vogelfreunden durchaus kritische Stimmen: «Wir sind der Meinung, dass es sinnvoller wäre, die Lebensbedingungen für bedrohte Vogelarten zu verbessern, statt viel Geld in die menschgeführte Migration zu investieren», sagt zum Beispiel Andreas Georg, Präsident Zuger Vogelschutz / Bildlife Zug.
Zu Gast in Baar, und wie es dazu kam
Und was ist jetzt mit Knuckle? Seine Eltern Enea und Rupert stammten aus einer Zucht im deutschen Überlingen. Sie wählten ein grosses Fenstersims im Industriegebiet von Rümlang als Nistplatz und zogen dort im Sommer 2023 zwei Küken gross, Knuckle und Panhead. Dank Sichtungen und ihrer 4G-Sender kann man ihre Migrationsbewegungen grob nachvollziehen: Mitte November 2023 wird die ganze Familie in Baar gesichtet. Ende November kommen die Eltern mit nur einem Jungen im Überwinterungsgebiet in Italien an. Das zweite Junge, Knuckle, bleibt zurück, man weiss nicht warum. Er wird Mitte Dezember 2023 in Luzern gesichtet. Sein Vater fliegt im März 2024 in Richtung Norden, wird aber noch in Italien (illegal) abgeschossen. Die Mutter findet gemeinsam mit anderen Waldrappen über mehrere Stationen den Weg zurück nach Überlingen, wo sie erneut brütet. Im Herbst 2024 stirbt sie, nur fünfjährig. Das zweite Junge, Panhead, ist dem Vernehmen nach weiterhin in Italien.
Knuckle hält sich bis zum 19. Mai 2024 auf der Almend Luzern auf. Am 27. Mai wird er in Rümlang gesichtet, ist jedoch am nächsten Tag schon zurück in Luzern. Ende August bis Mitte September ist er in Baar zu beobachten, am 25. September wird er in Altdorf gesehen und dann von Oktober bis heute immer wieder im Raum Baar / Zug.
Wer Knuckle sieht, sollte sich ihm nicht nähern und ihn auf keinen Fall füttern. Am besten wäre es, ihn wegzuscheuchen. Für alle, die bisher keinen Blick auf Knuckle erhaschen konnten, lohnt sich vielleicht ein Besuch bei seinen zwölf Artgenossen in der Zuger Voliere.