Der 7. Baarer Rabe fliegt in den Kanton Zürich
19.11.2025 Musik/KulturAm 9. November wurde im Rahmen des Zentralschweizer Kinderund Jugendliteratur-Festivals «Abraxas» der mit 4’000 Franken dotierte Baarer Förderpreis für die beste deutschsprachige Nachwuchsautorin verliehen.
DANIELA GERER
«Alle sieben Preise gingen bisher an Frauen. Können Männer eigentlich keine schönen Geschichten schreiben?», scherzte Walter Lipp, der als Baarer Gemeindepräsident das Grusswort zur Preisverleihung sprach. Dann schlug er ernstere Töne an: Baar wolle «eine aktive Einbindung junger Menschen in das Kulturleben» fördern. Die Unterstützung von Nachwuchsautorinnen und -autoren sei eine Aufgabe, die Baar «sehr, sehr gerne» wahrnehme. Die Fördersumme sowie die Publikation ihrer Geschichte beim Schweizerischen Jugendschriftenwerk-Verlag bieten der Preisträgerin Mirjam Nievergelt nun neue Perspektiven für ihr literarisches Schaffen.
«Pinie packt’s!» – Eine Geschichte über Angst im Dunkeln
Isabelle Hauser, Präsidentin des Vereins Abraxas, charakterisierte Nievergelt in ihrer Laudatio als «Autorin, die seit vielen Jahren anekdotisch ihren Blick auf die Welt in Notizen festhält.» Hauser betonte, was für ein Glück es sei, dass die Autorin «auch Zeit gehabt hat, die Geschichte von Pinie für uns alle aufzuschreiben.»
«Pinie packt’s!» (mit Illustrationen von Isabel Peterhans) erzählt von einem fast zehnjährigen Mädchen, das sich auf eine Übernachtung im Garten ihrer Grossmutter freut und zugleich davor fürchtet, denn sie hat Angst vor der Dunkelheit. Dieses Gefühl von Angst werde, laut Hauser, in einer präzisen, «bildhaften Sprache» dargestellt, besonders eindrücklich etwa bei der Beschreibung von Treppenstufen, die «in einen weit geöffneten Mund eines fürchterlichen Monsters» zu führen scheinen.
Bei der Lektüre fällt auf, dass Nievergelt ihrer jungen Leserschaft auf Augenhöhe begegnet. Statt pädagogisch zu belehren, nimmt sie Kinderliteratur als eigenständige literarische Form ernst. Kinderbuchautor E.B. White formulierte diese Haltung einst treffend: «Kinder sind anspruchsvoll. Wer sie unterschätzt, verschwendet seine Zeit.»
Wer erfahren wollte, wie Pinie ihre Angst überwinden kann, hatte dieses Jahr Pech, denn die traditionelle szenische Lesung der Preisträgergeschichte musste leider entfallen.
Stattdessen betrat zum krönenden Abschluss des Festival-Wochenendes die diplomierte Geschichtenerzählerin Miriflu Engeler die Bühne. Sie hatte eine Handpan und die älteste Form von Literatur mitgebracht: das ephemere freie mündliche Erzählen.
Die Kunst des freien Erzählens
Engeler erzählte von ihren Erfahrungen als «Flunkerfee»: «Flunkern, das ist, wenn dir eine Geschichte aus dem Mund purzelt, die ein bisschen wahr und ein bisschen erfunden ist.» Eingewoben in diesen autobiografischen Rahmen waren tiefenentspannende Improvisationen auf der melodisch-perkussiven Handpan sowie freie Erzählungen klassischer Märchen und Geschichten. Da war zum einen die bekannte Bilderbuchgeschichte vom Joggeli, der «nid wott Birli schüttle», deren rhythmische Wiederholungen einige Erwachsene im Publikum mitsprachen: Wiederholtes gefällt offenkundig nicht nur Kindern.
Oder das persische Märchen vom Zauberfisch, in dem die Protagonistin den neuen, isolierenden Reichtum aufgibt zugunsten der Rückkehr zur Gemeinschaft. Engeler schloss die Geschichte auf die traditionelle Überlieferungsart: «Nachdem sie ihren Freundinnen alles erzählt hatte, haben diese es weiterzählt. Und so ist die Geschichte weitergewandert, von Dorf zu Dorf, über die Grenzen des Landes hinaus, übers Meer, über hohe Berge, bis sie heute hier gelandet ist, im Burgbachsaal in Zug.»
Der Baarer Rabe als Gütesiegel für Kinderliteratur
Ganz zum Schluss erwähnte die Erzählerin noch etwas Bemerkenswertes: «Wir sind heute zusammen davon geflogen – weit, weit weg und ganz nah zu uns.» Erzählen ermöglicht Flucht aus dem Alltag und zugleich eine Rückkehr zu uns selbst. Entscheidend ist hierbei das Wörtchen «zusammen». Der Philosoph Byung-Chul Han schreibt, dass der moderne Mensch in die isolierende Selbstoptimierungsfalle geraten sei und dabei die soziale Funktion des Erzählens fast vergessen habe.
Paradoxerweise ist es gerade die oft unterschätzte Kinderliteratur, die den Weg aus der allgemeinen Lesekrise weisen kann. Wer aufwächst, wo gemeinsam erzählt, gelesen und diskutiert wird, kann sich vielleicht später daran erinnern, dass Literatur Menschen einander näherbringt.
So gesehen erfüllt der «Baarer Rabe» eine doppelte Funktion: Er unterstützt Nachwuchsautoren finanziell, verschafft ihnen Sichtbarkeit und bietet Eltern Orientierung in einem unübersichtlichen Kinderbuchmarkt. Gleichzeitig wird er selbst zu einem Teil der Erzählgemeinschaft, die er fördern will: Er zeichnet Geschichten aus, die junge Menschen und Erwachsene zum gemeinsamen Erleben einladen, und schafft mit der Preisverleihung für den Kanton einen weiteren Raum, an dem wir mit dem Erzählten über uns hinausgreifen können.


