Ein Amerikaner findet Heimat im Schweizer Jodlerklub
13.08.2025 Musik/KulturDie erste Saison von Nathan Scales im Jodlerklub «Echo Baarburg» ist ein Lehrstück über gelungene Integration in einem Baarer Heimatverein.
DANIELA GERER
In festlicher Sonntagstracht formieren sich die Sänger und Sängerinnen des Jodlerklubs «Echo Baarburg» auf der Bühne des 66. Zentralschweizer Jodlerfests Menznau zu einem Halbkreis. Nur dieses eine Lied lang hat der Chor Zeit, sich für das eidgenössische Jodlerfest 2026 zu qualifizieren. Dann der erste Ton – und schliesslich füllt Robert Fellmanns «Abschied» den Raum, eine berührende Baarer Ballade über das Verlassen der Heimat. Mittendrin singt als zweiter Tenor jemand mit, der seine ganz eigene Heimatgeschichte mitbringt: der US-Amerikaner Nathan Scales.
Der erste Schritt
Wie wird ein Software-Ingenieur aus Pennsylvania Mitglied eines Schweizer Jodlerklubs? Der Tipp kam vor einem Jahr von einem Baarer Nachbarn, doch der 50-jährige Scales zögerte damals. Trotz seiner Kirchenchorerfahrung aus jungen Jahren war er skeptisch: «Wenn mein Nachbar mir nicht versichert hätte, dass im Jodlerklub nur ein kleiner Teil der Sänger die solistischen Jodelpassagen übernimmt, hätte ich mich vielleicht nie getraut, den ersten Schritt zu machen.» Darüber hinaus fragte Scales sich, wie er wohl zu einem so traditionsreichen Baarer Heimatverein passen würde.
Schon nach den ersten Proben verwandelte sich die Sorge in Staunen: «Ich war sehr überrascht, wie offen und freundlich alle zu mir waren», erzählt der talentierte Tenor. Die Klubmitglieder hätten ihm von Anfang an alles geduldig erklärt. Besonders herausfordernd sei das Memorisieren der Jodelsilben-Abfolge gewesen, denn diese wird in den Chornoten nicht notiert; der Amerikaner musste sich zwangsläufig an den Mundbewegungen seiner Kollegen orientieren.
Mit eisernem Willen erarbeitete sich der Vater zweier erwachsener Töchter immer mehr Stücke des über 50 Lieder umfassenden Klub-Repertoires, während gleichzeitig seine Faszination rund um die Jodelkultur wuchs: «Wenn sich alle Stimmen zu einem Klang vereinen, ist das einfach wunderschön.»
Der Bergkristall im Beizli
Besonders deutlich wird das Beispiel gelungener Integration nach dem Auftritt in Menznau: Beim gemeinsamen Znacht-Essen necken die Sänger Scales liebevoll mit Zungenbrechern, die dieser (fast) perfekt nachspricht. Vielleicht ist diese Offenheit des Klubs dem Geist zu verdanken, den der Vereinspräsident Beat Obrist selbst vorlebt. «Mir ist die Herkunft eines Menschen völlig egal», sagt dieser, «das Wichtigste ist, dass wir das Publikum mit unserem Gesang berühren.»
Dann geschieht etwas Magisches: Obrist gibt dem Chor ein Zeichen. Sie stimmen den «Bergkristall» an, ein Juwel des Jodler-Repertoires, das auch Scales längst auswendig beherrscht. Das ganze Beizli lauscht. Die Botschaft des Liedes ist einfach, aber existenziell: Suchet die verborgenen Schätze im Alltag.
Mehr als Folklore
Wer Jodeln von aussen betrachtet, denkt häufig an Kitsch. Doch wer genauer hinhört, entdeckt überraschende Tiefe. «Es geht um Themen, über die man oft nicht spricht, weil sie zu gross sind», erklärt Obrist. Tatsächlich handeln viele Jodellieder von den grossen Fragen des Lebens: Vergänglichkeit, die Suche nach dem Bleibenden. Diese musikalisch geteilte Tiefe schafft Räume, in denen Menschen sich fallen lassen können, unabhängig von Herkunft oder Vorerfahrung. Auch für Scales geht es um mehr als Musik: «Es fühlt sich wirklich an wie eine Familie. So eine tiefe Kameradschaft habe ich schon lange nicht mehr erlebt.»
Heimat neu gedacht
Diese Erfahrung wirft eine grundlegende Frage auf: Was ist Heimat eigentlich? Oft wird sie als etwas Unveränderliches verstanden. Scales’ Geschichte erzählt etwas anderes: Heimat ist nicht das, was schon da ist, sondern das, was entsteht, wenn man dazugehört. Und dies kann jeder, der bereit ist zu lernen. Scales, der viele Jahre mit seiner Familie in Japan gelebt hat, weiss, dass Integration Arbeit bedeutet: «Man sollte sich des zusätzlichen Aufwands bewusst sein, den die Kameraden für einen leisten, und sich selbst bemühen, dem Heimatverein für diesen Einsatz auch etwas zurückzugeben.» Seine Antwort ist praktisch: «Für mich persönlich heisst das zum Beispiel, dass ich häufig die Stimmen mehrmals am Klavier durchgehe.» Der Fleiss Scales’ ist nicht unbemerkt geblieben. Von vielen Mitgliedern hört man, der Amerikaner sei musikalisch hochbegabt und ein Akzent sei beim Singen schon lange nicht mehr zu hören.
Angekommen
Am Sonntagmorgen ist ganz Menznau schon früh auf den Beinen. Die Spannung ist gross, dann verkündet die Jury für den Jodlerklub «Echo Baarburg» die Bestnote 1. Sie haben es geschafft, nicht nur die Qualifikation für Basel. Auch etwas anderes ist gelungen: der Beweis, dass Integration funktioniert, wenn beide Seiten Offenheit und Engagement zeigen. Scales’ Definition von Heimat ist einfach: «Heimat ist da, wo meine Familie ist.» Diese Familie ist nun deutlich gewachsen.