Rückenwind für Anliegen von Menschen mit Behinderung

  25.09.2024 Politik

Der Baarer Martin Jaussi engagiert sich für die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung. Dass die 1. Zuger Inklusive Landsgemeinde stattgefunden hat, ist auch ihm zu verdanken.

ANNETTE KNÜSEL

Die 22 Teilnehmer der Inklusiven Landsgemeinde, die am 9. September im Kantonsratssaal stattgefunden hat, waren sorgfältig ausgewählt worden. Denn sie sollten die Menschen mit Behinderung im Kanton Zug möglichst breit vertreten. Jeder von ihnen hatte vier Minuten Zeit, um über eines von drei vorgegebenen Themen zu sprechen: Arbeit, Wohnen oder politische Teilhabe. Ob junge Mutter mit nur zwei Prozent Sehleistung oder IV-Rentner im Rollstuhl – alle gewährten einen kurzen Einblick in ihren Alltag und die wichtigsten Herausforderungen.

Kantonsräte aller Fraktionen und Mitglieder des Regierungsrats hörten ihnen aufmerksam zu. Andreas Hostettler, als Zuger Direktor des Innern Schirmherr dieser Landsgemeinde, erinnert sich: «Mich hat stark beeindruckt, wie offen, engagiert und gut vorbereitet die Teilnehmenden ihre Erfahrungen und Probleme dargelegt haben. Gleichzeitig kam ihre Bereitschaft, auch ihren Teil zu leisten, klar zum Ausdruck.»

Import einer Idee von Bern nach Zug
Initiiert wurde diese Landsgemeinde unter anderem von Martin Jaussi aus Baar. Er engagiert sich seit zehn Jahren für das Thema «Leben zu Hause mit Assistenz» und hatte im März 2023 an der Behindertensession in Bern teilgenommen. Bei einem Treffen mit den Zuger National- und Ständeräten im Bundeshaus wurde ihm klar: «Wir brauchen diesen Dialog auch im Kanton!» Gesagt, getan. Wieder zu Hause, ging Jaussi auf die Verwaltung zu – und traf dort auf offene Ohren.

Die Abteilung Behinderung und Betreuungsleistungen des Sozialamts griff seine Idee auf und organisierte mehrere Vorbereitungssitzungen. Teilnehmer wurden angefragt, Politiker eingeladen, die Tagesordnung festgelegt. Bewusst plante man keine Diskussion – das Zuhören und sich Kennenlernen sollte im Mittelpunkt stehen. Konkrete Beschlüsse wurden an dieser Landsgemeinde auch nicht gefasst. Nach dem Erfolg des Treffens gefragt, strahlt Jaussi: «Die erste Inklusive Landsgemeinde hat stattgefunden und die zweite ist geplant!» Es sei ein Dialog in Gang gekommen, der langfristig von Nutzen sein soll.

Niemand möchte fremdbestimmt leben
Martin Jaussi sitzt im Rollstuhl. Seit 36 Jahren leidet er an chronischer Multipler Sklerose mit zunehmend schwerem Verlauf. Woher nimmt er die Kraft, sich trotz dieser Krankheit so aktiv zu engagieren? Jaussi sieht einen direkten Zusammenhang zu seiner Wohnsituation: Bis vor neun Jahren lebte er stationär in verschiedenen Institutionen. Doch seit er die Möglichkeit bekommen hat, zusammen mit seiner Partnerin Katrin Marczona in einer eigenen Wohnung zu leben, unterstützt durch sechs Assistenten, hat er nicht nur neue Freude am Leben, sondern auch viel Energie. Diese setzt er ein, um möglichst vielen anderen Menschen mit Beeinträchtigung das Leben in den eigenen vier Wänden zu ermöglichen.

Ein solches «Leben zu Hause mit Assistenz» sei in Summe nicht nur günstiger als die stationäre Unterbringung in einer Institution, sagt Jaussi. Es bringt ihn auch näher an den Alltag anderer Menschen. Dieses Umfeld habe eine ganz andere Wirkung, als wenn er immer unter Seinesgleichen sei. «Sie machen’s gut, in den Institutionen», sagt er, «und trotzdem … dass ich schwer krank bin, merke ich ja sowieso.» In der eigenen Wohnung ist für trübe Gedanken wenig Platz. Jaussi hat immer viel zu tun, denn er ist Arbeitgeber für seine Assistenten, koordiniert ihre Einsätze, muss Verantwortung übernehmen, Vorgaben machen, Abrechnungen erstellen oder prüfen …

Rückenwind von oben, und von unten
Jaussi ist sich sicher, dass es noch mehr Menschen mit Behinderung gibt, die von dem positiven Energieschub profitieren könnten, den die Selbstbestimmung mit sich bringt. Und die Politik gibt seinem Anliegen Rückenwind. Zum 1. Januar 2024 hat der Zuger Regierungsrat das Gesetz über Leistungen für Personen mit Behinderung und Betreuungsbedarf (LBBG) in Kraft gesetzt. Regierungsrat Hostettler: «Es freut mich sehr, dass mit dem neuen Gesetz über Leistungen für Menschen mit Behinderung und Betreuungsbedarf (LBBG) ein wichtiges Fundament gelegt werden konnte, auf dem nun ganz viel Positives entstehen kann und auch entsteht.» Doch trotz der politischen Unterstützung sind im Einzelfall immer noch viele Hürden zu bewältigen. Eine davon ist das Finden einer passenden Wohnung. Dabei würden wenige Massnahmen genügen, damit ein konventioneller Neubau auch fürs Leben mit Assistenz taugt: Alle Türen müssen eine Durchgangsbreite von 80 Zentimetern haben, damit ein Elektrorollstuhl hindurch passt. Statt der klassischen Badewanne braucht es eine ebenerdige, befahrbare Fläche. Und die Kücheneinrichtung sollte höhenverstellbar sein. Jaussi hatte bei seiner Wohnungssuche Glück. Das Gebäude war fast fertig, doch der Innenausbau war noch im Gang und sein Vermieter war bereit, eine Wohnung entsprechend anzupassen.

Die Zuger Sozialpolitik ist auch an diesem Thema dran. Und Jaussi weibelt weiter, um den Politikern von der Basis her ordentlich Rückenwind zu geben. Für mehr Teilhabe, mehr Selbstbestimmung und mehr Lebensfreude der Menschen mit Behinderung.


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