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  19.11.2025 Musik/Kultur

In Barbara Baumanns Kunst treffen mystische Symbole auf banale Alltagsgegenstände, starke Farben auf geometrische Muster. In den vergangenen zwei Jahren entstanden Arbeiten mit Ästhetik und Tiefsinn.

ANNETTE KNÜSEL

Viele Menschen fürchten sich vor Armut, Krankheit oder Krieg. Um sich davor zu schützen, setzt der moderne Mensch auf Familie, Versicherungen und den Rechtsstaat. Doch das ist noch nicht alles. Eine Ausstellung mit Bildern und Collagen der Baarer Künstlerin Barbara Baumann lenkt den Blick ganz subtil auf weniger nüchterne Strategien, mit denen wir uns Sorge tragen.

Religiöse Symbole als Schutz
Während eines mehrmonatigen Aufenthaltes in Indien sah Baumann immer wieder farbenprächtige Amulette – an Autos, Türen, Tempeln und Menschen. Fragte sie nach der Bedeutung, bekam sie immer dieselbe Antwort: «Protection!», Schutz. Ein kleines Stück Stoff oder Metall, mit Mustern oder Figuren versehen und mit Bedeutung aufgeladen als Absicherung gegen die Widrigkeiten des Lebens, gegen Armut, Krankheit oder Krieg. Baumann bezeichnet sich selbst als nicht-religiös. Doch sie sagte im Künstlergespräch mit Lotti Etter auch: «Ich kenne das Bedürfnis nach Schutz, nach Hilfe, nach einer Gebrauchsanweisung.» Und so liess sie sich von den farbenfrohen Amuletten in den indischen Bussen dazu inspirieren, eigene Amulette herzustellen.

Material, Ästhetik und Bedeutung
Zurück in der Schweiz, entdeckte ihr durch Indien geschultes Auge auch hier überall «protection». Insbesondere in den Klosterarbeiten, die sie in Kursen von Trudi Ziegler-Baumann kennen und lieben lernte. Der Begriff «Klosterarbeiten» bezeichnet eine Handwerkskunst, die seit dem Barock in vielen Klöstern gepflegt wurde, heute jedoch fast ausgestorben ist. Die «Schöne Arbeit», wie sie auch genannt wurde, entstand im Zuge der Reliquienverehrung. Diese erhielt im 16. Jahrhundert durch die Exhumierung von tausenden Gebeinen aus den Katakomben von Rom einen grossen Schub.

In der ganzen christlichen Welt wurden die Heiligengebeine ausgestellt. Sie zu berühren, galt als starker Schutz vor Armut, Krankheit oder Krieg, und auch vor allen anderen Widrigkeiten des Lebens. Entsprechend kostbar waren die Reliquien, und mit den «Klosterarbeiten» gab man ihnen einen würdigen Rahmen: Man bettete die Knochen in Stoffe, Perlen, Stickereien, kunstvolle Drahtinstallationen, funkelnde Edelsteine, goldene Borten und vieles mehr und besiegelte damit ihre herausragende Bedeutung.

Sinnbilder unserer Zeit
Die Ausstellung zeigt, wie Baumann fernöstliche Amulette und europäische Klosterarbeiten künstlerisch zu etwas Neuem verbindet – und dabei um eine säkulare Dimension erweitert. Denn zwischen den spirituellen Motiven und Formen finden sich zahlreiche Spuren unseres banalen Alltags: Sicherheitsnadeln etwa oder die achtlos abgerissenen Alu-Laschen von Getränkedosen, wie sie zu hunderten die Böden unserer Bahnhöfe bevölkern. Der Energydrink, unterwegs und in Eile getrunken, als Schutz vor Müdigkeit und Langeweile – er ist in der Schweiz so präsent wie in Indien die Amulette. In den Collagen von Baumann wird seine Bedeutung sichtbar und gleichzeitig besiegelt.

Die Betrachtung der Ausstellung mit ihren dekorativen und gleichzeitig tiefsinnigen Arbeiten bringt also nicht nur ästhetischen Genuss, sondern auch erkenntnistheoretischen Gewinn: über säkulare Methoden, sich zu schützen, und die Präsenz von Magie im modernen Alltag.


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